Das große Nichts

 

 

 

 

 

 

Nach H.G. Petzold gibt es fünf Säulen der Identität: 1. Leib 2. soziale Bezüge 3. Arbeit 4. materielle Sicherheit und 5. Werte.

Diese Säulen bauen, stützen und tragen normalerweise die Identität eines Menschen.

 

Bei schweren Erkrankungen wie ME/CFS brechen oft innerhalb kurzer Zeit alle oder die meisten dieser Säulen der Identität weg. Der Körper funktioniert nicht mehr, Freunde gehen aufgrund der Isolation verloren, das Arbeitsumfeld sowie der Beruf müssen aufgegeben werden, man gerät dadurch sehr oft in Geldnöte. Die alten Werte verlieren ihre Bedeutung. Identitäten werden ausgelöscht. Man verschwindet sozusagen komplett und landet im Nichts.

 

Aber einmal ins Nichts hineingefallen, kann man sich dort auch ein wenig umschauen.

Wer bin ich, wenn alles im Außen verschwindet? Was ist das, das immer noch da ist, wenn alles verloren geht? Wer oder was bin ich wirklich?

 

Im Nichts bin ich zunächst einmal frei. Ich bin frei von allem. Das ist neben der Tragödie der Krankheit eine überraschende und freudige Entdeckung. Fast ist es ein Widerspruch in sich: Die Erkrankung empfinde ich zum einen extrem beengend und einschneidend, zugleich offenbart sich eine nie da gewesene Freiheit in ein unbekanntes Nichts hinein.

 

Der Tag kann jetzt nicht mehr gestaltet und strukturiert werden, wie das z.B. durch einen Arbeitsalltag von selbst geschieht. Daher bin ich gezwungen, den Tag sich selbst entwickeln zu lassen und folge seinem Rhythmus.

 

Zeit bekommt nun eine völlig neue Bedeutung. Es werden nicht mehr Zeitpunkte, Fixpunkte und Zeitdauern strikt mit der Uhr vermessen und gelebt, sondern ich beobachte, wie zeitliche Rhythmen sich aus sich selbst heraus entwickeln. Zeitlichkeit erfahre ich nun viel tiefer, befreit von ihrer Oberflächlichkeit wie dem Versuch, sie mittels Uhren fassbar zu machen. Zeit zeigt sich in unterschiedlichen Tempi, in verschiedenen Qualitäten, in ihrer unmittelbaren Gestaltungskraft.

Zeit kann man linear erfassen, das ist unser üblicher Zugang zu Zeit, wir pressen sie in eine horizontale Zeitlinie, sie richtet sich nach vorne mit Planungsideen und Erwartungshaltungen (Zukunft) und sie richtet sich oft nach hinten in erinnerte Momente (Vergangenheit). Neben der üblichen horizontalen zeigt sich nun auch eine Art vertikaler Qualität von Zeit. Dort offenbart sie ihre Lebendigkeit und ihre Beweglichkeit.

 

In einer vertieften Wahrnehmung von Augenblicken wird eine Weite spürbar, die weit über ein personal empfundenes Dasein hinausgeht. Ich kann unmöglich nur die Flüchtigkeit einer oder mehrerer Identitäten sein, die ich mir für eine gewisse Zeitspanne zuschreibe (Arbeitsjahre, Freundeskreis, Befindlichkeiten, etc.). Das, was ich tatsächlich bin, liegt jenseits aller zuschreibbaren Identitäten.

 

Mönche meditieren oft ein Leben lang, um die Erfahrung der Leere, des großen Nichts, des Absoluten aufzuspüren. ME/CFS kann diese spirituelle Suche beschleunigen und verkürzen, immerhin raubt sie einem alle Identitäen, so dass man, ob man will oder nicht, mitten ins Nichts fällt. Ganz ohne jahrzehntelanges Meditieren.

 

When you rest in quietness and your image of yourself fades, and your ideas of others fade, what`s left? A brightness, a radiant emptiness that is simply what you are.“ (Adyashanti)

 

 

 

 

 

ein schönes Buch dazu:

Byung-Chul Han (2015): „Der Duft der Zeit“ Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens. Transcript Verlag, Bielefeld